top of page

das hirn schlägt links

641_008_594206_Q1535093.jpg

Zuerst erschienen in

-> Südwest Presse

neurowissenschaflter niels birbaumer
über die linke und den streit

Herr Birbaumer: 30 Jahre Wien, London, München – dann das kleine Mössingen in der Nähe der Universitätsstadt Tübingen. Wie lebt es sich als Weltstadtkind in der Provinz?

Na – als ich 1975 nach Tübingen kam, dachte ich: Hier bleibe ich ein Jahr und dann haue ich wieder ab. Die akademische Atmosphäre war mir von Anfang an unangenehm. Sie ist das auch heute noch. Aber die Arbeitsbedingungen waren stets paradiesisch. Ich bin ganz froh, dass ich irgendwann nach Mössingen gezogen bin. Hier treffen Sie normale Leut‘.

Wen denn zum Beispiel?

Mein Nachbar etwa ist Italiener – mit dem kann ich italienisch reden. Der andere ist ein netter Schwab’ – das ist eine ganz andere Atmosphäre als oben auf dem Tübinger Professorenhügel. Dort treffen Sie nur Ihresgleichen.

Irgendwann hat es Sie aus den Weltstädten hierher verschlagen.

Ja, damals waren die Studentenrevolutionen. Die Studenten in Tübingen haben gefordert, dass sie einen Kandidaten vorschlagen dürfen. Der Grund war auch politisch: Weil ich nämlich diese biologische „Hirn“-Richtung in der Psychologie vertreten habe.

Das war ein politischer Grund?

Ja. Viele Studenten waren ja Sowjet-freundlich. Und die waren in ihrer Philosophie am Pawlow orientiert. Nicht an Freud, Adorno, der Psychoanalyse.

Das gängige Klischee sagt ja: Biologistisch ist konservativ ...

Genau!

... und Psychoanalyse links.

Sie haben völlig recht! In den meisten Orten in Deutschland war das auch so. Bei den Biologistischen waren sogar die alten Nazis versammelt. In der Nazizeit war die Psychologie erbbiologisch. Die Charakter-Kunde, dieser ganze Blödsinn. Das ist das Gefährliche am biologisch-psychologischen Denken: Das kann man so oder so drehen.

Sie dagegen waren im linken Lager.

So ist es. In Wien haben wir gegen die Professoren rebelliert, einen alternativen Lehrplan entwickelt etwa. Da ist die ganze Bande rausgeflogen. Auch ich, der da schon angestellt war.

Wie sind Sie denn in die biologistische Schiene gekommen? Gerade Wien ist doch die Stadt Freuds.

Wien ist die Stadt Freuds, da haben Sie recht. Nur: Die Psychologie in Wien war anti-freudianisch. Freud war da sogar verboten. Mein eigener Lehrer war ein Mit-Entdecker des EEG – der stand näher an der Ingenieur- und Hirnwissenschaft. Freud war out.

Aus heutiger Sicht scheint diese starke Politisierung der Psychologie äußerst weit entfernt.

Sehr richtig. Wenn ich Studenten die Zusammenhänge zwischen Industrie, Pharmaindustrie, Patientenversorgung und Pseudo-Krankheiten erklären – dann sitzen sie oft da und schauen mich an wie einen Wundermann.

Pseudo-Krankheiten?

Viele Krankheiten sind schlicht und einfach erfunden, von der Industrie gemacht. Darüber gibt es sehr gute wissenschaftliche Dokumentationen. Die Industrie definiert sich oft die Krankheiten so, wie es ihr passt. Wenn sie ein Mittel haben – dann muss eine Krankheit dafür her.

Womit wir beim Streit-Thema sind: Zu Ihren Forschungsfeldern gehört auch die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung....

Die medikamentöse Seite ist von der Industrie erfunden. Pfizer hatte Methylphenidat im Angebot – das hat aber niemand gekauft. Jetzt kaufen es alle. Die teils dramatischen Nebeneffekte wurden unter den Tisch gekehrt und von der Industrie verschwiegen.

Muss man denn nicht Eltern verstehen, die lieber zur Tablette greifen als eine möglicherweise völlig nutzlose Therapie zu beginnen?

Das ist ja immer meine Kritik: Es existieren ja Therapien, die nebenwirkungsfrei sind. Die erfordern aber, dass Sie erstmal die Finger vom Ritalin lassen, sich hinsetzen und unsere Trainingsverfahren aufnehmen.

Aber?

Dagegen sprechen etwa die Kassenvereinbarungen: Biofeedback etwa bezahlen sie nicht. Und: Die Motivation vieler Psychotherapeuten, Technik in ihre Praxis zu bringen, ist gleich Null.

Es ist zudem sehr aufwendig.

Ja, es erfordert technischen, geistigen Aufwand – und einen irren Einsatz.

... ähnlich dem enormen Aufwand einer von Ihnen favorisierten Verhaltenstherapie mit sehr intensiver Konfrontation des Patienten, direkt mit dem Alltag. Das ist teuer.

Natürlich! Aber es wäre durchaus finanzierbar. Der jetzige Irrsinn ist ja auch finanzierbar.

Biofeedback gehört zu den neurowissenschaftlich fundierten Therapieverfahren. Wann hat es begonnen, dass diese Disziplin so zur allgegenwärtigen Leitwissenschaft geworden ist?

Gute Frage. Eine Erklärung ist: Die Leit-Theorie für diese Art von Wissenschaft war über viele Jahrzehnte die Psychoanalyse. In den Geistes- und Kulturwissenschaften, auch in der Medizin, war das eine dominierende Theorie, wie der Mensch funktioniert.

Heute kaum noch.

Nein. Und was ist der Ersatz? Sie suchen immer nach einer vereinheitlichenden Theorie, die Verhalten erklärt. Die Leute suchen nach einer Erklärung für alles, was so passiert. Da bietet sich das Hirn idealerweise an. Viele Hirnforscher machen für sich geltend: Da ja alles aus dem Hirn kommt, kann man alles aus dem Hirn erklären. So ist die Logik. Dass sie damit demselben Blödsinn aufsitzen wie die Psychoanalytiker, das haben sie nicht kapiert.

Und die andere Erklärung?

Die andere Erklärung ist sicherlich der zunehmende Konservativismus im Denken vieler Leute. Die biologistischen Konzepte haben im Rahmen des allgemeinen konservativen Trends an Potenz gewonnen: Leute suchen nach feststehenden Erklärungen und denken, die finden sie in der Biologie.

Ist das auch ein wenig quasi-religiös?

Oft. Die Gesellschaft sucht, wenn sie keine Religion hat, nach Ersatzerklärungen. Und für diejenigen, die nicht an den lieben Gott glauben, bietet sich die Hirnforschung ganz gut an.

Aus journalistischer Perspektive muss ich sagen: So ein buntes Hirn auf einer Seite sieht auch besser aus als ein Sofa von Freud.

Vollkommen richtig. Das ist ein ganz wichtiger Faktor – nicht nur in der breiten Öffentlichkeit. Wenn ich heute etwas publizieren will in einem guten Journal und ich komme ohne farbige Bilder daher – das kann ich fast vergessen. Also schicke ich ein paar bunte Bilder mit. Die Message kommt ja trotzdem rüber.

Dass die Neurowissenschaften auch Themen wie den freien Willen behandeln, führt zudem zu einem populären Schauer-Effekt. Man fragt sich: „Liebe ich diese Frau – oder liebt mein Gehirn sie?“

Richtig. Studenten in der Vorlesung zeige ich immer dieses Bild von dem Verbrecher, der zum Polizisten sagt: „Ich hab's nicht getan! Es war mein Gehirn!“

Und? Wer hat es jetzt getan? Die Debatte um „Therapie statt Strafe“ ist ja ein Dauerbrenner derzeit.

Wenn man die Kriminellen zu Nicht-Kriminellen machen will – was die meisten wollen – muss man fragen: Was wirkt am Besten? Und dafür gibt es ganz klare Daten. Die zeigen eindeutig, dass selbst die Psychopaten, die wir untersucht haben – und das sind wirklich harte Brüder – lernen können, etwas wie Empathie zu entwickeln. Dazu müssen sie aber mühsam lernen.

Und das geht?

Das geht. Selbst die, die Empathie nicht wirklich lernen, müssen und können im Prinzip lernen, dass sie andere Leute nicht umbringen. Dafür wiederum ist Androhung von Strafe zwar teilweise ein sehr gutes Prinzip. Für die meisten Leute aber gilt das nicht – für die gilt, dass Trainingsprogramme sehr viel wirksamer sind als Wegsperren oder Strafe.

Ändert diese wissenschaftliche Überzeugung etwas daran, wie Sie selbst Kriminellen im Alltag begegnen?

Nein, in solchen Situationen denke ich meistens so wie Sie und alle anderen. Aber dieses Wissen um die Änderbarkeit hilft manchmal, sich über solche Dinge nicht so wahnsinnig aufzuregen. Sie werden ein wenig toleranter, wenn Sie wissen, wie es im Prinzip ginge – wenn Sie es machen könnten und wollten.

Ihr Heimatstädtchen Mössingen hat selbst historische Erfahrungen gemacht mit Toleranz und Verbrechen. Beschäftigt Sie die Debatte um den Mössinger Generalstreik gegen Hitler im Jahr 1933?

Natürlich. Wenn mich jemand danach fragt, mische ich mich ein. Wenn eine Gesellschaft so etwas macht wie in der Nazizeit, dann ist so eine Diskussion die Chance – keine Garantie wohlgemerkt –, dass sich so etwas nicht wiederholt.

Reicht die Debatte?

Gesetze braucht es auch. Aber Adolf Hitler ist auch in ein relativ demokratisches Gesetzessystem eingetreten. Franco übrigens auch – auch wenn es dort nicht vergleichbar dramatisch war. Aber: Die spanische Gesellschaft hat sich damit kaum auseinandergesetzt. Auch meine eigene Nation übrigens nicht.

Sie sind gebürtiger Österreicher und haben Ihren Pass im Zuge des Aufstiegs von Jörg Haiders „Freiheitlichen“ abgegeben.

Die Österreicher haben sich in weiten Teilen überhaupt nicht damit auseinandergesetzt. Bis zum Untergang der K.u.K.-Monarchie war alles piccobello – und danach haben sie alles vergessen. Die Folge sind Haider und Urban und Konsorten. Meiner Meinung nach sind das die Folgen einer – ich sag’s mal in unserer alten Ideologie – einer mangelnden antifaschistischen Front.

Bei allem Lob der Debatte – im schwäbischen Mössingen wird der noch immer schwelende Streit um den Generalstreik und seine Hintergründe aber nicht selten als Unruhe bewertet, als unwillkommen.

Mag sein. Aber der Nutzen aus dem Streit ist, dass in so einer Auseinandersetzung auch der politische Gegner zumindest eine Idee dafür kriegt, was wirklich passiert ist. Das Internet, sagt man, sei dafür eine gute Möglichkeit. Aber das Internet ist sehr selbstbestimmt: Der Rechte liest nur Internetseiten von Rechten, der Linke liest nur Internetseiten von Linken.

Ein Plädoyer für die direkte Auseinandersetzung?

Ja, in der Diskussion und im Streit müssen die Parteien das. Da werden sie konfrontiert. Und Konfrontation ist die beste Therapie.

Niels Birbaumer, 68, ...

... gilt als einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler deutschlandweit und darüber hinaus. Kurz nach dem Krieg im heute tschechischen Záton geboren, verbrachte Birbaumer Jugend und Studienzeit in Wien. 1975 wurde er ans Psychologische Institut der Universität Tübingen berufen. 1993 wechselte er an die Medizinische Fakultät (Institut für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie). Der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler forscht über die Grundlagen des Lernens, Epilepsie, Angst und kriminelles Verhalten – um nur einiges zu nennen. Derzeit forscht Birbaumer mit vollständig gelähmten, so genannten „Locked-In“-Patienten über die Möglichkeit einer rudimentären Kommunikation mittels Gehirn-Computer-Schnittstelle.

bottom of page