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regeln für den algorithmus

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Zuerst erschienen in

-> Südwest Presse

bundestagsabgeordnete jessica tatti (linke) über die arbeit der enquete-kommission „künstliche intelligenz“

Frau Tatti, Sachbücher der 1980er haben noch prophezeit, im Jahr 2000 fahren überall KI-gesteuerte Autos. Passiert ist das nicht. Wie arbeiten Sie politisch mit der Möglichkeit, dass die Zukunft alle Erwartungen übertreffen, aber auch ganz ausfallen kann?

Auf alle Fälle wachsam. Autonomes Fahren ist ein gutes Beispiel. Jeder redet davon, aber wir sind in Deutschland noch weit von der digitalen Infrastruktur entfernt, die dafür notwendig ist. Drei große privatwirtschaftliche Anbieter haben wir - und die wollen primär Profit machen und weniger flächendeckend Infrastruktur anbieten.

 

Ein Taxifahrer, der sich heute angesichts KI-gesteuerter Fahrzeuge um seinen Arbeitsplatz sorgt, wird sich auf die Ineffizienz des deutschen Netzausbaus aber nicht verlassen wollen. Wie soll er sich vorbereiten auf die nächsten zwanzig Jahre?

Die Szenarien sind ja sehr vielfältig. Manche sagen, dass uns die Arbeit ausgehen wird. Das glaube ich nicht. Es gibt Berechnungen des IAB, dass in Deutschland bis 2035 etwa 1,5 Millionen Arbeitsplätze durch digitalen Wandel verloren gehen könnten. Die aber würden an anderer Stelle durch neue Berufsfelder neu entstehen. Wenn wir mal von diesem Szenario ausgehen, ist vor allem die Frage: Wie bringen wir die Menschen aus den Feldern, die verloren gehen, in die neuen Berufsfelder?

 

Sie glauben, dass das mit Weiterbildung klappt?

Wenn man es richtig macht. Die Bundesregierung hat jüngst das Qualifizierungs-Chancen-Gesetz verabschiedet…

… das im Zuge der Digitalisierung mehr Weiterbildung im Job bieten will, wenn Arbeitgeber und Arbeitsagentur mitmachen…

Doch richtet sich das Gesetz wirklich an Geringerqualifizierte? An Erwerbslose? An prekär Beschäftigte? In der beruflichen Weiterbildung findet man doch meist die eh schon Höherqualifizierten.

 

Eine Frage von Milieu und Lebensstil.

Nein, auch eine betriebswirtschaftliche Frage! Warum sollte ich als Arbeitgeber, betriebswirtschaftlich gesehen, in einen 60-Jährigen investieren? Eben deshalb brauchen wir einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung für Alle, gerade für die, die sich fragen, wie es in Zeiten Künstlicher Intelligenz weitergehen soll.

 

Sie sind Mitglied in der Enquete-Kommission für Künstliche Intelligenz (siehe Info-Kasten): Wie ist da so die Stimmung?

In der Kommission sind die meisten der Meinung, dass man jetzt unbedingt und ganz schnell KI fördern muss: Weil daran auch eine riesige Wachstumschance hänge. Aber allein 3 Prozent Wachstum jährlich durch KI? Solche Prognosen kommen von interessierten Unternehmensberatungen, die den Hype mit pushen. KI ist wichtig und zentral – aber wichtiger muss es doch sein, KI zum Nutzen aller zu gestalten.

 

Viel dringt aus der Kommission noch nicht nach außen.

Aus meiner Sicht spricht viel dafür, erste Ergebnisse schon vor dem Abschlussbericht im Herbst 2020 zu veröffentlichen. Gerade auch, weil es Sorgen in der Bevölkerung gibt. Denn manche Sorgen sind berechtigt, andere sind aus der Welt zu schaffen, wenn man KI besser versteht.

 

Was wäre für Sie eine nutzbringende Anwendung von KI?

Da gibt es unzählige, aber nehmen Sie nur die Diagnostik in der Medizin: etwa in welch frühem Stadium eine KI Hautkrebs erkennen kann.

Ähnliche Fortschritte werden für viele Branchen versprochen.

Sicher, aber zeitgleich gibt es Entwicklungen, bei denen es mich gruselt: In China wird in bestimmten Schulklassen Technologie zum Einsatz gebracht, die zielsicher erkennen kann, wer gerade nicht aufpasst, wer gerade einschläft, und auch Eltern werden laufend informiert. Funktionen, bei denen Individuen unwillkürlich Dinge mitteilen, hier etwa über ihre Mimik: So etwas lehne ich ab.

In Deutschland wäre eine solche Praxis eh kaum möglich: Datenschutz.

Ach wo, nehmen Sie nur die KI-gestützte Personalauswahl mit Hilfe von Precire…

… einem Stimm- und Sprachanalyse-Dienst, den Unternehmen einsetzen, um angeblich Valides über die Persönlichkeit eines Bewerbers zu erfahren.

Das sind höchst zweifelhafte Anwendungen, deren Treffsicherheit nicht belegt ist - die aber auch nicht kontrollierbar und transparent sind. Der Bewerber kann hier nicht nachvollziehen, warum die Software gerade ihn als ungeeignet ansieht.

 

Es gibt aber auch die Gegenmeinung: Dass nämlich KI, wenn sie gut trainiert ist, vorurteilsfreier entscheiden kann als ein Mensch. Dass sie von Hautfarbe, Geschlecht, Alter und Aussehen absehen kann.

Das muss das Ziel sein – und deshalb müssen wir uns vorher darüber klar sein, was wir als Gesellschaft haben wollen.

 

In unserer Region blicken Leute mit Sorge, andere mit viel Hoffnung auf die Entwicklung. Konzerne und Start-Ups investieren kräftig bei uns. Sind Sie dabei?

Auch in der Enquete-Kommission haben wir viele Debatten zu Start-Ups und wie man sie fördern kann. Genauso wichtig ist aber die Frage: Was wollen wir fördern? In manchen Teilen des Bundestags will man einfach alles fördern, was nach StartUp aussieht. Weil man schon zwanghaft vergleicht, wieviel mehr StartUps China oder die USA oder Israel haben.

 

Weil man technologisch nicht den Anschluss verlieren will.

Ich habe ja auch überhaupt nichts dagegen, dass wir eine gute Start-Up-Kultur bei uns haben. Aber die Frage ist: Was machen die da eigentlich? Sind es Start-Ups, die wirklich im Sinne einer vertrauenswürdigen und menschenorientierten KI Dinge auf den Weg bringen? Unterstützt diese KI die sozial-ökologischen Ziele für die Gesellschaft? Wenn ja, ist es gut.

 

Einige Unternehmer würden hier mahnen, zu viele Regeln limitierten die derzeitige Dynamik.

Es fällt derzeit doch immer wieder dieser schöne Satz: Wir wollen in der KI nicht den Weg von China gehen, mit der Staatszentriertheit und der Überwachung. Und wir wollen nicht den Weg der USA gehen, so völlig marktbesessen. Aber wenn man heute gefragt wird, was genau denn dann unser so genannter „Werteweg“ ist – dann darf man nicht weiter die politische Antwort darauf schuldig bleiben.
 

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